Donnerstag, 10. September 2009

Wozu noch Geschichten?

"[...]Dieser in allem ungelenke Intellektuelle sass nächtelang im ausgeräumten Zimmer seines Sohns und wurde immer grüblerischer, versponnener, urteilsschwächer. Manchmal sprach er mit Roman, aber er fing an zu stottern und geriet in ungewohnte Ausdrucksnot.
'Mach nichts wie ich', stammelte er mehrmals, und als er nicht weitersprechen konnte, schrieb er seine Worte auf einen Block.
'Ich habe nach den Begriffen gelebt. Es ist aber besser, viele Sagen, Mythen, Geschichten zu besitzten, sie nicht bloss zu kennen, sondern wirklich zu besitzen. Das heisst: von ihnen besetzt und besessen zu sein. Damit kann jeder seine Familie beliebig vergrössern. Sein Typ mitsamt seinem Unglück bekommt eine Menge Geschwister. Onkel und Väter, Vorgänger, Ahnen, einen ganzen Clan, zu dem er gehört und der im Notfall ihm beisteht. Damit du nicht nacht und abstrakt dastehst, wenn dir einmal etwas so Unbegreifliches passiert wie mir. Wenn man viele Geschichten besitzt, wird man sich immer an eine andere, sehr alte, sehr ähnliche erinnern und ein wenig Trost finden bei seiner jahrhundertealten Verwandtschaft, bei seiner Familie. Alles, was dir als ein grausamer Zufall erscheint, der dich in furchtbarer Vereinzelung trifft, ist in Wahrheit nichts als eine Erinnerungslücke: weil dein Hirn den Zusammenhang mit der grossen Geschichte des menschlichen Unglücks verlor. Nicht herstellen kann. Nicht parat hat. Und auch deine Mutter nestelt jetzt euer neues Nest aus altem Plunder, aus dem Plunder uralter Neuanfangsgeschichten.
Jeder Angstschrei des Hasen, den man hetzt/eine Faser im menschlichen Hirn zerfetzt.
Und dann setzt die Verwirrung ein. Die Engel sind übrigens deshalb so klein, weil sie auf den Kern des Guten geschrumpft sind."

(aus Botho Strauss: Mikado. 2006, Hanser, S. 101f.)

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