Mittwoch, 23. April 2008

Averroes by Agamben by Imagination

"Die Imagination ist eine Entdeckung der Philosophie des Mittelalters. Und noch in diesem erreicht sie im Denken des Averroes ihre kritische Schwelle - und ihre aporetischste Formulierung. Tatsächlich betrifft die zentrale Aporie des Averroismus, die nie aufhörte, den hartnäckigen Widerspruch der Scholastiker zu erregen, das Verhältnis zwischen dem einen und abgetrennten möglichen Intellekt und den einzelnen Individuen. Laut Averroes bedürfen diese, um sich mit dem Intellekt zu vereinigen (copulantur), der Phantasmen, die im inneren Sinn (insbesondere der Einbildungskraft und dem Gedächtnis) hausen. Insofern kommt der Imagination eine absolut entscheidende Bedeutung zu. Auf dem Gipfelpunkt der individuellen Seele, an der Grenze zwischen dem Körperlichen und dem Unkörperlichen, dem Individuellen und dem Gemeinsamen, der Empfindung und dem Denken ist sie die Schlacke, die die in Flammen aufgegangene individuelle Existenz auf der Schwelle zum Abgetrennten und Ewigen zurücklässt. Folglich ist die Imagination - nicht der Intellekt - das Prinzip, das die Spezies Mensch bestimmt.
Fraglos ist diese Definition aporetisch [...], denn sie siedelt die Imagination in der Leere an, die sich zwischen der Empfindung und dem Denken, der Mannigfaltigkeit der Individuen und der Einheit des Intellekts auftut. Daher - wie immer, wenn es darum geht eine Schwelle oder einen Übergang zu erfassen - die schwindelerregende Vervielfachung der Unterscheidungen in der mittelalterlichen Psychologie: Sensibitlität [virtus sensitiva], Einbildungskraft [virtus imaginativa], Erinnerungsvermögen [virtus memorialis], materieller und erworbener Verstand [intellectus materialis, adeptus] etc. Die Imagination beschreibt einen Raum, in dem wir aufgehört haben zu denken, in dem nur durch eine Denkunmöglichkeit das Denken ermöglicht wird."

*****Aus: Agamben, Giorgio: Nyphae. Berlin, 2005. S. 42.

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